Amrum, die Perle der Nordsee, ist nicht nur für ihre weiten Strände, das Dünental und die faszinierende Natur bekannt – auch Sagen und Mythen gehören zur Geschichte dieser Insel. Eine der bekanntesten Überlieferungen erzählt vom geheimnisvollen Wassermann, der möglicherweise der Ursprung der eindrucksvollen Amrumer Dünenlandschaft war. Ob Legende oder Realität – die Geschichte ist ebenso faszinierend wie das Naturphänomen selbst.
So soll es begonnen haben: Der Sage nach fanden die Amrumer einst am Strand einen toten Körper. In gutem Glauben und nach christlicher Sitte beerdigten sie ihn auf der Insel. Doch nur wenige Tage später zog ein gewaltiger Sturm über die Insel hinweg. Meterhohe Sandmassen türmten sich auf, verschütteten Felder, Marschland und drohten sogar ganze Dörfer zu begraben.
Ein weiser alter Mann äußerte einen folgenschweren Verdacht: Der Tote sei möglicherweise ein Wassermann, ein Wesen des Meeres, das dort auch seine letzte Ruhe finden müsse. Man grub den Toten erneut aus – und tatsächlich: Er hatte den Daumen im Mund, ein klares Zeichen für einen Wassermann, wie die Überlieferung sagt. Schnell brachte man den Leichnam zurück ins Meer – und wie durch ein Wunder legte sich der Sturm. Die Dünen aber, so heißt es, blieben als ewige Erinnerung an dieses Ereignis bestehen.
Auch wenn die Sage vom Wassermann einen bildhaften und eindrucksvollen Ursprung der Dünen beschreibt, lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht die tatsächliche Entstehung der Amrumer Dünenlandschaft nicht ganz so eindeutig datieren. Viele Geologen vermuten, dass die Dünen erst nach der Wikingerzeit, wahrscheinlich sogar erst im 14. Jahrhundert, durch ständige Sandverwehungen entstanden sind.
Für die damaligen Amrumer war diese Entwicklung eine Katastrophe. Fruchtbares Ackerland verschwand unter den neu entstehenden Sandbergen, alte Siedlungen mussten aufgegeben werden. Der massive Landverlust könnte mit ein Grund gewesen sein, warum sich viele Insulaner später dem Walfang oder der Seefahrt zuwandten – in der Hoffnung auf ein besseres Leben jenseits des bedrohten Landes.
Was damals als Bedrohung empfunden wurde, ist heute ein einzigartiges Naturwunder. Wer von der Aussichtsdüne in Norddorf oder vom Leuchtturm in Wittdün aus die Insel überblickt, wird von der gewaltigen Dünenlandschaft Amrums begeistert sein. Zwar wirkt das Zusammenspiel aus Tälern, Hügeln und Sandwällen auf den ersten Blick chaotisch – doch wer genau hinschaut, erkennt die Strukturen und gesetzmäßige Formen der Natur.
Die Dünenbildung ist heute weitgehend abgeschlossen. Nur an wenigen Stellen – insbesondere zwischen Nebel und dem Wriak-Hörn, wo sich auch Amrums großer Süßwassersee befindet – entstehen durch den über den Kniepsand gewehten Sand immer noch kleine neue Stranddünen.
Ob man der Sage vom Wassermann glaubt oder sich lieber auf die Wissenschaft verlässt – fest steht: Die Dünenlandschaft auf Amrum ist ein Meisterwerk der Natur. Geformt durch Wind, Wasser und Zeit, erzählt sie nicht nur von geologischen Prozessen, sondern auch von der Beziehung zwischen Mensch und Natur, von Überlebenskunst, Wandel und dem Versuch, das Unerklärliche zu verstehen.
Ein Besuch dieser Dünen ist nicht nur landschaftlich ein Erlebnis – er ist auch eine Reise in die Geschichte der Insel, in ihre Sagenwelt und ihre Naturgewalten.